„Und dann lag da ein Baby”

Zustellerin Sigrid Ackermann

Wenn Zusteller*innen gefragt werden, was sie an ihrer Arbeit besonders schätzen, kommt meist eine Antwort wie: „Die Ruhe in der Nacht ist toll.” Begleitgeräusche im Job sind normalerweise Vogelgezwitscher oder ab und an mal der Anlasser eines Autos. An einem kalten Märzmorgen war Sigrid Ackermann wie üblich in ihrem Schweriner Gebiet unterwegs. Ein ungewöhnliches Geräusch weckte ihre Aufmerksamkeit. Es hörte sich an wie ein Katzenjammern. „Aber irgendwas stimmte nicht”, sagt Sigrid. Sie folgte den Lauten und fand in einem Hauseingang ein neugeborenes Baby, eingewickelt in eine Wolldecke. Aber der Reihe nach. 

Sigrid arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Zustellerin der Schweriner Volkszeitung. Die Tageszeitung steckt sie seitdem täglich nachts in die Briefkästen im Stadtbezirk Mueßer Holz, während die meisten Menschen noch schlafen. So auch an dem grauen Märztag, den sie so schnell nicht vergessen wird. „Ich war an dem Tag später unterwegs, weil wir noch Werbung mitnehmen mussten. Das hatte sich hingezogen”, erinnert sich Sigrid. Am Abend vorher hatte es geregnet, in der Nacht gab es zudem noch Frost. An die verschiedenen Witterungsbedingungen gewöhne man sich mit der Zeit, sagt Sigrid. Trotzdem sei sie froh gewesen, dass es am Morgen zwar sehr kalt, aber wenigstens trocken war. 

UNGEWÖHNLICHES GERÄUSCH WECKT AUFMERKSAMKEIT

Normalerweise genießt auch sie während der Arbeit die Ruhe, die in der Plattenbausiedlung um diese frühe Uhrzeit noch herrscht. Gerade zu Beginn ihrer Tour gegen 4 Uhr ist sonst niemand unterwegs. Als sie zum Eingang eines Hauses geht, hört sie an diesem Morgen ein komisches Geräusch. „Es klang wie das Jammern einer Katze. Allerdings war irgendetwas merkwürdig”, erzählt Sigrid. Also schaut sie genauer nach und folgt den ungewöhnlichen Tönen. Rechts an der Eingangstür entdeckt sie schließlich ein kleines Bündel. Die Zustellerin schaltet ihre Taschenlampe ein und traut ihren Augen kaum. „Dann lag da wirklich ein kleines Baby, gerade erst geboren. So etwas zu sehen, war unbeschreiblich. Ich konnte es einfach nicht glauben”, sagt sie. Sie hebt das schreiende Kind auf, nimmt es in den Arm und versucht es zu trösten – immer noch ungläubig über das, was gerade passiert: „Ich dachte wirklich, ich wäre im falschen Film.”

Sigrid handelt anschließend instinktiv. Ihr ist klar, dass das Kind professionell versorgt werden muss. Doch sie hat kein Handy dabei, um einen Krankenwagen oder die Polizei zu rufen. „Ich nehme nie ein Handy mit. Habe doch Vertrauen in die Menschheit und glaube an das Gute, da denke ich nicht dran”, erzählt sie rückblickend. Also drückt sie die Klingelknöpfe an dem Haus, vor dem sie kurz vorher den kleinen Jungen gefunden hat. Irgendjemand muss doch aufmachen, habe sie sich gedacht. Als endlich eine Frau die Tür öffnet, will sie Sigrid ihre Geschichte zunächst nicht glauben. Erst beim Anblick des Säuglings wird auch der Frau bewusst, wie ernst die Lage ist. Von der Wohnung der Anwohnerin aus rufen sie sofort die Polizei. „Obwohl auch die erst gedacht haben, dass ich denen einen Bären aufbinde. ,Sie erzählen doch Märchen’, sagten die”, erinnert sich Sigrid. Nach ihrer Ankunft kümmern sich die Einsatzkräfte umgehend um den Jungen, den Sigrid bis zu dem Zeitpunkt immer noch im Arm hält. Dem Zustand nach zu urteilen, dürfte der Junge erst 30 Minuten am Fundort gelegen haben. Außer einer starken Unterkühlung sei er den Einsatzkräften zufolge zumindest äußerlich gesund. Sie nehmen den Kleinen zur anschließenden Versorgung mit in ein Krankenhaus.

NACHVOLLZIEHBARE REAKTIONEN

Dass die Anwohnerin und die Rettungskräfte ihr erst nicht glauben wollten, kann Sigrid nachvollziehen: „Ich würde es auch nicht glauben, wenn mir wer sagt ,Vor Ihrer Tür liegt ein Baby’ – das geht gegen jegliche Vorstellungskraft.” Für die 61-Jährige ging der Tag nach dem turbulenten Morgen weiter. Sie trug die restlichen Zeitungen aus und ging ihrem Alltag gewohnt nach. Dass eine Zustellerin ein Baby auf der Türschwelle gefunden hatte, machte aber im Viertel schnell die Runde. Viele Leute sprachen Sigrid darauf an: „Waren Sie diejenige, die das Kind gefunden hat?”, hörte sie häufig in den nächsten Tagen.

Wenn sie heute an den aufregenden Morgen zurückdenkt, ist sie sich bewusst, dass sie dem Kind das Leben gerettet hat. „Wenn ich etwas später unterwegs gewesen wäre, wäre es vielleicht anders ausgegangen”, sagt Sigrid. Sie frage sich allerdings immer noch, wie jemand sein eigenes Kind einfach vor eine Tür legen könne. Laut einem Zeitungsbericht wurde die Mutter erst einige Monate später ausfindig gemacht. Die junge Frau gab an, überfordert gewesen zu sein. Das Kind habe sie bewusst in den Hauseingang gelegt. Aus sicherer Entfernung habe sie das Geschehen beobachtet, um sicherzugehen, dass ihr Baby von der Zustellerin gefunden wird. Wie die Zeitung weiterschrieb, lebe das Kind seither in einer Pflegefamilie. Für Sigrid Ackermann hat die aufregendste Geschichte ihres Zustellerlebens damit ein Happy End. Sie denkt mit einem guten Gefühl an diesen Tag zurück, wenn sie auf ihrer Tour an dem Haus mit dem Baby vorbeikommt.

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